Ein Blick auf das Leben und die Gedanken des großen Philosophen und seiner Frau
Im Herbst 1968 führte ich meine große Liebe zum ersten Rendezvous aus. Sie ging an meiner Seite in einem leichten hübschen Kleid und ich wünschte mir, immer in dieser Nähe von ihr zu bleiben. Wir saßen auf Holzstühlen in einem Gartenrestaurant, tranken Limonade und tasteten uns mit Fragen nach unseren Steckenpferd vorsichtig heran. Als sie nun das Meinige wissen wollte, erklärte ich ihr zögernd, dass ich mich für klassische Literatur interessiere und trug ihr Klopstocks „Sommernacht“ leise vor. Da wurden ihre Augen ganz groß und ich ermutigte mich selbst noch ein zweites Gedicht von Klopstock anzuhängen: „Das Rosenbund“. Da lachte sie plötzlich mit ihrer katzenschnurrigen Stimme und ich befürchtete das Ende der Romantik. Mein pochendes Herz beruhigte sich, als sie sagte: Zweier ihrer Onkels seien mit dem Dichter verwandt, der eine nennt sich „von Klopstock“ und der andere hatte nach Vertreibung aller Deutschen aus ihrer Heimat den polnisierten Namen Klopotek davon beibehalten.
Erst im hellen Licht des Vollmonds gingen wir heim und ich erklärte ihr unter dem Sternenzelt Immanuel Kants Kosmogonie. Noch bevor nach diesem, ein neuer Vollmond am Himmel aufblühte, verließen wir als zwei junge Eheleute das Standesamt am Bismarck-Platz.
Einige Jahrzehnte später drückte mir meine jüngste Tochter zur Weihnachtszeit ein Büchlein in die Hand, mit der Bitte, es auszufüllen. Es trug den Titel „Papa, erzähl mal!“ und in dem Erinnerungs-Album standen zahllose Fragen, die ich aus meinem Leben berichten sollte. Ich schreibe noch heute an diesem Erlebniswerk, zumal mein Leben recht ungewöhnlich verlief. Dennoch möchte ich auch in unserem Blog allgemeinbildend etwas über die Familie Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803) und Gottlieb Fichte (1762–1814) berichten.
Im Herbst 1770 erfuhr der sächsische Baron Ernst Haubold von Milditz von einem Gänsejungen, dessen Gedächtnis dem eines Elefanten glich. Er befand diese Angaben für rechtens und nahm den verschmutzten Jungen Gottlieb Fichte, Sohn eines armen Webers, zu sich auf seinen Gutshof. Im Alter von 12 Jahren schickte er den Zögling aus dem Dorfe Rammenau in die Landesschule Pforter, wo die Söhne des sächsischen Adels und die Söhne des gehobenen Bürgertums zu Gelehrten gemacht wurden. Als der Baron starb, stand der junge Fichte mit leeren Taschen auf der Straße. Als Wanderlehrer zog er durchs Land, um Kindern der Wohlhabenden völlig unterbezahlt Hausunterricht zu erteilen.
1789 brach die französische Revolution aus und Fichte freute sich, dass endlich die Menschen erkannten, dass die alte Ordnung nicht von Gott gegeben war, sondern von Menschen gemacht, sich gegen die Tyrannei der Könige erhoben. Fichte schrieb anonyme Kampfschriften über die Zurückführung der Denkfreiheiten von den Fürsten Europas, die sie bisher unterdrückten. Damit griff er die verängstigte Aristokratie als einen Anachronismus an und Relikt barbarischer Zeiten (die es schon seit Babylon und dem alten Ägypten gibt). Fichte forderte Gedankenfreiheit als Menschenrecht, das keine Fürsten verweigern können.
Im Züricher Hause, wo Fichte gerade Privatlehrer war, kam die 29-jährige Johanna Maria Rahn zu Besuch ihrer dortigen Cousine. Johanna war die Nichte von Friedrich Gottlieb Klopstock und hatte von diesem die Liebe zur Literatur geerbt. Männer fürchteten im Schatten ihres Geistes zu stehen und sie wurde zu der Zeit für eine alte Jungfrau gehalten, aber sie wollte nur einen Mann in Augenhöhe. Einzig Fichte konnte ihre Fragen über Kants „Kritik der reinen Vernunft“ vom Ende des Tisches ihr erklären. Diese geistige Gemeinsamkeit festigte ein unsichtbares Band zwischen ihren Herzen. Fortan philosophierten sie im gegenseitigen Briefverkehr. Fichte gestand in einem Schreiben: „Ohne Sie bin ich ein Baum ohne Wurzeln!“ Johanna antwortete mit klarer Schrift: „Bäume ohne Wurzeln fallen um, mein Freund, ich werde Ihre Erde sein!“
Im Oktober 1793 heirateten sie in einer Züricher Kapelle ohne Familie und Mitgift. Die Armut trieb Fichte nach dem deutschen Ostpreußen, wo er in Königsberg vom Morgen bis zum Abend auf den Empfang von Immanuel Kant wartete. Der Philosoph verlangte ein Manuskript. Geldnot trieb Fichte, dieses innerhalb einer Woche zu verfassen. Kant las es durch und veranlasste dessen anonyme Veröffentlichung. Fichtes Schrift „Versuch der Kritik aller Offenbarung“ wurde ein großer Erfolg. Die Kirche schnaufte vor Wut. Kant füllte jeden Sonntag die Hörsäle und die Kirchenstühle vereinsamten.
Mit 32 Jahren hielt Fichte in Jena seine erste berühmte Vorlesung, wonach das Ich die Welt erschaffen hat, mit folgenden Worten: „Meine Herren, sammeln Sie sich, gehen Sie in sich! Es interessiert uns hier nicht das Äußere, sondern das Innere. Denken Sie an eine einfache, weiße Wand! Und nun denken Sie an sich selbst, wie Sie an die Wand denken. Wer ist es, der da denkt? Es ist das ICH (Ichbewusstsein)! Das ICH ist der Ausgangspunkt allen Denkens. Nicht die Welt, nicht Gott, das ICH! Merken Sie es sich, es ist der wichtigste Gedanke, den Sie jemals denken werden!“
Fichte bezog sich damit auf die Erkenntnis, dass unser Bewusstsein es ist, welches die Welt erschafft, und Gott ist dieses Ich selber. 500 Studenten zollten Fichtes erste Rede tosenden Beifall.
Jetzt, wo es Fichtes finanziell gut erging, besetzte Napoleon Deutschland zu seinem großen Kummer. Die Nutznießer fügten schon französische Ausdrücke ihrer Muttersprache zu. Hierüber sprach Fichte so zu seinen Studenten: „Ein Volk, das aufhört, seine Sprache zu sprechen, hört auf, ein Volk zu sein! Die Sprache ist nicht nur ein Werkzeug des Verstandes, sie ist die SEELE eines Volkes, wer sie aufgibt, der gibt sich selber auf! Die Lösung für Deutschland ist nicht das Schwert, aber die Waffe bleibt, die stärker ist als alle Kanonen: die Erziehung! Wir müssen eine neue Generation heranziehen, die fähig ist, Deutschland zu erneuern, nicht mit Gewalt, sondern durch den Geist, durch das Denken, durch das Wissen, wer wir sind und wer wir sein können!“
Laut Anekdote sollen sich nach dieser Rede zwei französische Offiziere mit der Frage an Fichte gewandt haben: „Wo liegt die Grenze zwischen der Liebe zum eigenen Volk und dem Hass zu einem fremden Volk?“ Fichte antwortete kurz: „Die Grenzen liegen im Herzen dessen, der liebt! Wenn Sie den Unterschied nicht verstehen, dann tut es mir für Sie leid, Monsieurs!“
Die Studenten lehnten sich gegen Fichtes Abneigung ihrer tödlichen und nichtigen Duelle auf. Die Kosmopoliten unterstellten Fichte einen lokalen Nationalismus. Mit dem Sieg der deutschen Freiheitskämpfer über Napoleon in der Völkerschlacht bei Leipzig am 16.–19. Oktober 1813 füllten sich die Lazarette mit Kriegsversehrten. Dorthin eilte Johanna Fichte als Pflegerin und steckte sich dort mit Typhus an. Nur knapp überlebte sie durch ihres Mannes liebevolle Fürsorge. Als sie ihr Bett verlassen konnte, traf ihren Mann das tödliche Fieber und er erlag trotz Johannas größten Aufopferungen dem Typhus am 27.1.1814 mit 51 Jahren. Ihm zu Ehren werden wir nächstes Jahr einige seiner Gedichte vortragen.
Literaturtipps
📚 Empfohlene Bücher:
Fichte – Die Wissenschaftslehre
Johanna Maria Rahn: Eine Frau hinter Fichte
*Immanuel Kant – Kritik der re
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