GEISTES-ERBEN

Eine Geschichte von Sāriputta und dem Erhabenen

Einst weilte der Erhabene in der großen Stadt Sāvatthi, im Vihāra (Kloster) des edlen Stifters Anātha-piṇḍikas. Von dort zog er mit einer großen Gruppe Bhikkhus (Mönche) die Hauptstraße hinunter, wo die frommen Bürger vor ihren Häusern am Straßenrand schon auf das Saṅgha (Mönchsgemeinde) des Erleuchteten warteten, um ihnen segensreiche Almosen zu geben. Sie legten glücklich den frommen Pilgern die Morgengaben in ihre offenen Schalen in der Gewissheit, eine gute Tat vollbracht zu haben.

Noch vor Tagesmitte verzehrten die Mönche gemeinsam ihre geteilten Almosenspeisen und eröffneten das Halbtagsfasten mit einer vom Erhabenen eingeleiteten Rezitation. Im Anschluss daran hielt der Erhabene im Sālā (Versammlungshalle) eine Sutta (Lehrrede), die er Dhamma-Dayāda („Lehre geistiger Erben“) nannte:

„Ihr Büsser sollt nicht Erben im Fleische werden, sondern Erben im Geiste! Denn das ist mein Mitleid mit euch, dass ihr nicht etwa falsch bezichtigt werdet, Erben im Fleische zu sein. Gesetzt der Fall, ich hätte übermäßig gegessen, wäre satt und befriedigt und hätte noch einen Rest an Speise übrig gelassen, gewillt, diese auf den Komposthaufen zu entledigen. Da kämen dann zwei Bhikkhus daher, erschöpft und hungrig. Denen würde ich diese Speisen anbieten. Der Eine würde diese Speise auch nach Tagesmitte genießen und die Entkräftigung durch Hunger beseitigen. Der Andere jedoch rief sich die Worte des Erhabenen ins Gedächtnis: ‚Erben im Geiste sollt ihr mir werden, nicht Erben im Fleische!‘. Dem käme der Gedanke: Speisen befriedigen jedoch den fleischlichen Körper; soll ich nicht diese Almosenspeise ungenossen lassen und hungrig wie ich am Tage bin, so auch die Nacht zubringen? Dieser würde dann mit seiner Geistesanstrengung den körperlichen Zwang besiegen und so körperlich ungesättigt die Nacht überstehen. Letzterer Mönch, o Freunde, ist mir eben würdiger und preislicher. Denn das wird diesem Büsser für lange Zeit zur Befriedigung, zur Beruhigung, zur Reinigung, zur Genügsamkeit und zur Entschlossenheit anleiten.“

So sprach der Erhabene, erhob sich leicht verbeugend mit zusammengelegten Handflächen und zog sich zur Mittagsruhe zurück.

Nach des Erhabenen Weggang ergriff der ehrwürdige Sāriputta das Wort und fragte seine Konfratres: „Brüder, inwiefern streben dem abgeschieden weilenden Ajan (Lehrer) die Schüler nicht nach Entfremdung?“ Daraufhin antwortete der weise Moggallāna: „Selbst von weit her, Bruder, würden wir kommen, um beim ehrwürdigen Sāriputta dieser Rede Sinn zu verstehen. Dank, wahrlich, würden wir ja ihn darum bitten!“

Und der ehrwürdige Sāriputta sprach so:

„Wo des abseits weilenden Erhabenen Schüler nicht nach Entfremdung streben und die Dinge, von welchen der ehrwürdige Ajan das Aufgeben gelehrt hat, nicht aufgeben und wohllebig, üppig, die ersten beim Verkehr, widerlich gegen die Abgeschiedenheit sind, da werden die Bhikkhus des ersten, zweiten, dritten Grades in drei Punkten tadelswert:

  1. Dem abwesenden Erhabenen widerstreben sie.

  2. An den Dingen, welche sie aufgeben sollten, haften sie weiter.

  3. Sie wurden wohllebig, üppig und widersetzlich der Theravāda (Waldtradition).

In diesen drei Punkten, ihr Brüder, machen sich diese Theravādin tadelig. Von Māra, dem Bösen (Teufel/Tod), kommt die Lust, das ins Elend führende Blendwerk. Zur Überwindung dieser Verblendung ist ein rettender Weg da, der sehend macht, zum Zuruhekommen, zur unmittelbaren Einsicht, zur Erleuchtung (Buddhaschaft) und zum Leid-Verlöschen (Nibbāna) führt. Eben dieser edle achtgliedrige Pfad (ariya-magga) führt über acht zu begehende Stufen:

  1. Rechte Gesinnung (Absicht)

  2. Rechtes Denken (positiv)

  3. Rechtes Reden (wahrhaftig, nützlich, friedfertig)

  4. Rechtes Handeln (gemäß den 5 Sīla: nicht töten, nicht stehlen, nicht huren, nicht lügen, nicht berauschen)

  5. Rechtes Wandeln (ehrhafter Lebenswandel)

  6. Rechtes Streben (geistig höher entwickeln)

  7. Rechtes Gedenken (Achtsamkeit)

  8. Rechtes Versenken (tägliche Meditationen)

Böse, ihr Brüder, ist der Groll, böse ist die Streitsucht, böse ist der Widerspruch, böse ist die Eifersucht, böse ist der Geiz (Missgunst), böse ist der Trug (Falschheit), böse ist die Trägheit (Faulheit), böse ist die Stumpfheit, böse ist das Aufbrausen, böse ist die Selbstsucht, böse ist die Überheblichkeit. Und zum Aufgeben all dieser bösen Dinge führt eben der achtgliedrige Pfad Ariya-Magga, und nur diejenige Religion, in welcher sich dieser mittlere Tugendpfad befindet, so lehrte uns der Erhabene, führt zur endgültigen Beendigung des Leidens.“

So sprach der ehrwürdige Sāriputta zur Erheiterung der Theravādin.

Achtsamkeitsübung: Meditation über den achtgliedrigen Pfad
  1. Setze dich in eine bequeme, aufrechte Haltung an einen ruhigen Ort.

  2. Schließe die Augen und atme tief ein und aus.

  3. Wiederhole langsam die acht Glieder des Pfades in deinem Geist:

    • Rechte Gesinnung

    • Rechtes Denken

    • Rechtes Reden

    • Rechtes Handeln

    • Rechtes Wandeln

    • Rechtes Streben

    • Rechtes Gedenken

    • Rechtes Versenken

  4. Bei jedem Glied halte kurz inne und frage dich: „Wie kann ich dies heute umsetzen?“

  5. Kehre sanft zu deinem Atem zurück und beende die Meditation nach 10–20 Minuten.

Weiterführende Quellen:

  1. Bhikkhu Bodhi: The Noble Eightfold Path: Way to the End of Suffering

  2. Walpola Rahula: What the Buddha Taught

  3. The Tipitaka: Samyutta Nikaya (Sutta Piṭaka)

  4. Analayo: Satipatthana: The Direct Path to Realization

  5. Ajahn Chah: Food for the Heart

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