Buddhas Erbe und die Weisheit des Nagarjuna
Der Erhabene (Buddha Gotama) erklärte vor seinem endgültigen Erlöschen im Jahr 543 v. Chr. ausdrücklich, dass er keinen speziellen Nachfolger wünsche. Das Dhamma (Buddhas Lehre) sei der einzige Schutz und die einzige Hilfe für jeden Bhikkhu. Buddha hatte nichts verborgen gehalten. Die Religion, in der es den Achtfachen Pfad gibt, ist die wahrhaftige Religion.
Unter Kaiser Ashoka (272–237 v. Chr.) wurde der Buddhismus zur Staatsreligion in ganz Indien, welche sich bald von Indien über das heutige Pakistan, Afghanistan bis ins griechische Anatolien ausbreitete. Der Buddhismus spaltete sich bald in zwei Hauptschulen: eine Schule der Selbstbefreiung (durch die Befolgung von Buddhas Lehre) und eine Schule der Gnadenerlösung (durch himmlischen Beistand). Erstere wurde das „Kleine Fahrzeug“ (Hinayana) genannt und stand für die kleinere Schar der Wandermönche (Theravada). Die zweite Schule wurde das „Große Fahrzeug“ (Mahayana) genannt und richtete sich an die größere Volksmasse.
Mit der Zeit entwickelte sich eine Tradition der Nachfolge von 28 weisen Patriarchen, den sogenannten „Maha-atma“ (große Seelen). Diese Patriarchen strebten parallel zu den Philosophen Griechenlands nach der Erkenntnis der Wahrheit. Der 384 v. Chr. verstorbene thrakische Gelehrte Aristoteles, Begründer der klassischen Philosophie des Abendlandes, wurde 342 v. Chr. an den Königshof von Makedonien gerufen. Aristoteles definierte den Grundbegriff des „Werdens“ (Bewegung) und artikulierte das Verhältnis von Potenz (Möglichkeit) und Akt (Wirklichkeit) als Verwirklichung einer Potentialität.
Ein Beispiel für seine Lehren sind die vier Ursachen eines Hausbaus: 1. Material (für die Zusammensetzung), 2. Strukturform, 3. Wirkungsursache (Bewusstsein, Effizienz) als Anlass des Entfaltungsgrundes, und 4. Ziel (Zweck der Ursache).
356 v. Chr. wurde Alexander der Große in Makedonien geboren. Er wurde 336 v. Chr. zum König ernannt und eroberte 327 v. Chr. über Persien ganz Indien. In Gandhara (Mittelindien) wurden die ersten uns heute bekannten Buddha-Figuren im griechischen Stil geschaffen. Es kam zu einem Austausch kultureller und religiöser Eigenschaften, wobei der 16. buddhistische Patriarch namens Nagarjuna die Lehren von Aristoteles in seiner „Madhyamaka-Schule“ (Große Schule der Mitte) verfeinerte.
Der westliche Relativismus („sowohl als auch“) wird hier nicht als Widerspruch begriffen. Man kann aus einem Fenster Sonnenschein sehen und gleichzeitig aus einem gegenüberliegenden Fenster heftigen Regen. Das eine schließt das andere somit nicht aus. Auf dem Weg zur Wirklichkeit kann die Wahrheit in der Mitte liegen, wie es die Lehre Nagarjunas erklärt. Die Unterschiede in der Wahrnehmung erklären sich durch das Sein. Alle Erscheinungen verändern sich über Zeitabschnitte, weshalb der Mensch kein kontinuierliches „Ich“ besitzt – ein Zustand, der aus dem Verständnis des Werdens hervorgeht.
Zur Veränderung und Beständigkeit erklärt Nagarjuna, dass alle Dinge, einschließlich der subjektiven Realität (unser Bewusstsein), nicht aus sich selbst heraus entstehen. Sie verdanken ihre Existenz einer Vielzahl von Ursachen. Deshalb gibt es kein unabhängiges Bewusstsein an sich; vielmehr entstehen alle Phänomene aus ihrem Zusammenhang mit anderen. Wenn etwas existiert, muss seine Gegebenheit in diesem Zusammenhang von allem anderen Sein erforscht werden. Diese Abhängigkeit von allem ist Nagarjunas Lehre von der wechselseitigen Abhängigkeit aller Dinge. Alles ist nach Nagarjuna das Resultat wechselseitiger Beeinflussung und komplexer Verbindungen, die sich auch wieder lösen können.
Wir denken an Buddhas Gleichnis vom Wagen: Dessen Existenz hängt von seinen Bestandteilen ab. Nagarjuna bezeichnet diese Bestandteile als Grundlage, auf der sich der Wagen zusammensetzt. Kein Bestandteil allein ist der Wagen: Radreifen, Radspeichen, Radnabe, Radachse, Radbremse, Wagenboden, Wagenwände, Wagenbock, Wagendeichsel usw. – sie sind alle voneinander abhängig, um einen Wagen zu sein. Der Wagen besteht nicht aus sich selbst heraus, sondern existiert nur durch seine Bestandteile, von denen er abhängig ist.
So können wir Nagarjunas Lehre von der Leerheit (Shunyata) verstehen. Niemand sollte sich an Substanzen klammern, als ob sie ewig wären. Man löst sich von der Fixiertheit, wozu ein Bewusstsein für die abhängige Entstehung hilfreich ist. Die Relativierung des Selbst (das nichts aus sich selbst heraus existiert, sondern nur in Abhängigkeit von anderen) entspricht der empathischen Erschließung des Anderen – und umgekehrt. „Ich“ und „Andere“ sind nicht zwei getrennte Entitäten; deshalb ist Vorsicht vor der Subjekt-Objekt-Falle geboten, aus der Feindschaft durch falsche Vorstellungen von Unabhängigkeit genährt wird.
Zwar besagt Nagarjunas Lehre, dass alle Dinge eine klare Form haben. Ein Fehler ist jedoch zu glauben, die Form sei wirklich fest, voneinander unabhängig und beständig. Das mag die Lehre der Materialisten sein, nicht aber die Lehre von der Mitte.
(Auszüge aus dem Mulamadhyamakakarika Sutta)
Erklärung der Nachfolge von 28 weisen Patriarchen (Maha-atma):
Die Nachfolge der 28 weisen Patriarchen, auch als „Maha-atma“ (große Seelen) bekannt, bezieht sich auf eine Linie von Lehrern und spirituellen Führern, die das Dhamma von Generation zu Generation weitergegeben haben. Diese Patriarchen waren nicht nur Bewahrer der Lehre, sondern auch Erleuchtete, die die Weisheit Buddhas in verschiedenen kulturellen und historischen Kontexten interpretierten und weiterentwickelten. Die Tradition betont die Kontinuität und die direkte Übertragung der Lehren von Buddha auf die nachfolgenden Generationen, die die wahre Essenz der Lehren bewahrt haben. Jeder Patriarch spielte eine wichtige Rolle bei der Verbreitung des Buddhismus und der Anpassung der Lehren an die Bedürfnisse der Zeit und des Ortes. Die Lehren und das Leben dieser Patriarchen bieten wertvolle Einblicke in die Praxis und die Philosophie des Buddhismus.