Ein Weg durch die Trauer
„So habe ich gehört: Auch wer den Pfad kennt, wird vom Schmerz des Verlustes heimgesucht. Doch wer verweilt in Weisheit, wird nicht von ihm verschlungen.“
Er hieß Haran.
Ein einfacher Mann, still und aufrichtig, von feiner Seele.
Als seine Frau Sita starb, verlor er nicht nur seine Gefährtin. Er verlor den Boden unter seinen Füßen, das Licht seiner Tage, den Klang der Geborgenheit.
Obwohl Haran seit vielen Jahren dem Pfad des Buddha folgte – meditierte, die Lehre kannte, die Vergänglichkeit verstand – kam er nicht zur Ruhe. Alles in seinem Haus schien gegen ihn zu sprechen: ihr Kamm, ihre Teeschale, der Geruch ihres Schals. Alles löste Tränen aus, schnürte ihm die Brust zu. Seine Praxis wurde leer, seine Tage still – bis hin zur Selbstverachtung:
„Warum kann ich nicht loslassen?“, fragte er sich. „Bin ich denn kein wahrer Schüler?“
Die Wahrheit war: Er hatte nicht die Trauer, sondern sich selbst bekämpft.
Die Erkenntnis: Trauer ist kein Feind
Eines Morgens, im siebten Monat seines Schmerzes, geschah etwas Unerwartetes.
Er saß vor einem verblühten Lotus, den er nicht wegwerfen konnte – er war der letzte, den Sita gepflückt hatte. Da erinnerte er sich an eine Lehrrede:
„Was geboren ist, wird sterben.
Was verbunden ist, wird sich lösen.
Was uns lieb ist, wird uns entgleiten.
Doch was wir mit klarem Herzen betrachten, verwandelt sich.“
In diesem Moment wurde ihm klar: Nicht der Lotus hielt ihn fest, sondern seine Weigerung, den Schmerz ganz zu fühlen – ohne Widerstand, ohne Urteil.
Er hatte geweint, ja – aber immer mit dem Wunsch, dass es aufhören möge.
Er hatte gelitten, aber nie in Frieden.
Der Weg durch den Schmerz
Von diesem Tag an setzte er sich täglich mit dem Schmerz hin, wie mit einem alten Freund.
Er sprach mit Sita, still im Herzen.
Er zündete eine Kerze an und las ihr Gedichte vor.
Er nahm sich selbst die Hand – wie man ein Kind tröstet.
Er lernte, den Schmerz zu ehren, nicht zu bekämpfen.
Mit der Zeit veränderte sich etwas. Die Tränen kamen noch, aber sie brannten nicht mehr. Sie flossen wie Regen, nicht wie Feuer.
Die Erinnerung blieb – aber sie schmerzte nicht, sie weichte sein Herz.
Die Wiedergeburt des Herzens
In der Stille seiner Übung geschah das, was die Alten das „zweite Erwachen“ nennen:
Nicht nur das Verstehen der Lehre – sondern ihre lebendige Wahrheit im eigenen Leib zu fühlen.
Er sah: Sita ist nicht fort.
Sie lebt in seinem Mitgefühl.
In seinem Atem.
In dem Lächeln, das er einem Fremden schenkt.
In der Wärme, mit der er einem Vogel Futter streut.
Und so begann er, anderen zu helfen, die trauerten.
Nicht als Lehrer. Nicht als Wissender.
Sondern als Mensch, der den Schmerz nicht überwunden, sondern durchwandert hatte.
Was wir lernen können
Trauer ist kein Fehler.
Sie ist eine Form der Liebe.
Buddhismus lehrt nicht, das Herz hart zu machen – sondern weich.
Nicht das Erinnern aufzugeben – sondern das Festhalten.
Ein Ausweg aus tiefer Trauer beginnt dort, wo wir nicht mehr entkommen wollen.
Wo wir still werden.
Wo wir atmen.
Wo wir erkennen:
„Ich bin nicht allein. Alles Lebendige kennt Verlust. Und alles Lebendige trägt auch die Kraft, neu zu blühen.“
Achtsamkeitsübung: Die drei Atemzüge des Loslassens
Einatmen – Spüre die Liebe, die du empfunden hast.
Ausatmen – Lasse den Wunsch los, dass alles bleiben möge.
Verweilen – in der Stille, in der alles verbunden ist.
Widmung
Möge dieser Text allen gewidmet sein,
die einen geliebten Menschen verloren haben –
den stillen Vätern, trauernden Müttern, einsamen Ehepartnern,
den Kindern, die nicht mehr fragen können,
und den Freunden, die schweigen mussten.
Möge euer Schmerz erkannt,
eure Liebe geehrt
und euer Herz gehalten sein.
Und möge auch jenen, die vorausgegangen sind,
Frieden und Licht zuteilwerden
in jener Weite,
wo Trennung und Zeit nicht mehr gelten.
Sabbe sattā sukhi hontu.
Mögen alle Wesen glücklich sein.