Ein Pfad zur inneren Stärke
Alleine gestellt fühlt sich der gewöhnliche Mensch unsicher und verletzbar. Er sucht den schützenden Schwarm und verhält sich demokratisch (der Mehrheit angepasst), um nirgends anzuecken. Doch erst ohne die vielen äußeren Ablenkungen sehen wir uns mit unseren eigenen Gedanken, Ansichten und inneren Konflikten konfrontiert. Der französische Philosoph Blaise Pascal (1623–1662) meinte, dass Menschen von Aktivitäten und Vergnügungen besessen sind, um sich nicht mit ihrer inneren Leere auseinandersetzen zu müssen. Um seine Schwächen und Stärken zu erkennen sowie innere Kraft und Frieden zu finden, benötigt der Mensch die Einsamkeit, die das Tor zum Himmel öffnet.
Die alte Wikinger-Edda lehrte in der Skaldenkunst, mit Archetypen zu arbeiten, und verwendete Kenningar (Umschreibungen) zur Verschlüsselung. Die nordischen Götter werden in die fertige Welt hineingestellt als Gegengewicht zum Bösen, das in Form von den mächtigen Thursen (Durstige) und Jöten (Etunen, Esser) erscheint – Sinnbilder der Trunksucht und Völlerei. Diese bedrohlichen Naturkräfte wüten in Utgard (Außengarten = Umwelt), während die Schöpfung erhaltenden Kräfte (Goten, Guten, Götter) mit den Menschen in ihrer Innenwelt Mitgard (Garten der Mitte) korrespondieren. Unsere Augenwimpern sind Ymirs Wälder, durch die wir in die Welt Utgards schauen.
Der Mensch betrat dieses Utgard und vergaß seine alte Zufluchtsstätte Mitgard – sein Refugium. Denn nur in dessen Stille offenbart sich die Dysfunktion des Geistes, der aufbäumend vorgaukelt, unbedingt noch wichtige Aktivitäten tätigen zu müssen. Dieser Geist lebt von Problemen und will entsprechend von unserer Seele (germanisch: And; indisch: Atma = Atem, Odem) stimuliert werden. Doch dieser Geist ist kein Freund der Seele. Er strömt von außen in sie hinein, um den Menschen mit Sorgen über Vergangenheit und Zukunft zu belasten und Gefühle der Reue zu wecken. Unser Atma hingegen wünscht sich Ruhe und Frieden als reines Bewusstsein, als Essenz der eigenen Existenz. In der Stille Mitgards richtet sich die Aufmerksamkeit auf unsere wahre Essenz und lässt den übrigen menschlichen Teil los.
In der modernen, hektischen Zeit des kollektiven, mediengeformten Verstandesbewusstseins ist das ständige Streben nach Vorbildern zu einer normalen Lebensweise geworden. Doch Utgard ist vergänglich und unzulänglich. Erst durch das Ablegen des kollektiven Musters des Suchens, Sehnens und Kümmerns erlangt der Mensch inneren Frieden. Diese Stufe der Gegenwart genügt, um sie zeitlich bis in die Zukunft auszudehnen. Durch echte Tiefenmeditation kann das Gefühl der Präsenz bestehen bleiben. So wird es möglich, die Zukunft richtig zu planen, ohne den Kontakt zum gegenwärtigen Moment zu verlieren.
Buddha Gotama verglich das Aufspringen der Gedanken mit einem Affen, der sich durchs Geäst hangelt. Kommen diese Gedanken zur Ruhe, wird die Raumesstille erfahrbar, die den gestörten Pfad zum inneren Wesen des Menschen wieder begehbar macht. Die innere Stille ist unabhängig vom Hintergrundrauschen Utgards. Mit dem inneren Frieden blüht der Mensch auf und wird glücklich, ohne auf Utgards Suchtmittel angewiesen zu sein.
Utgards Probleme gleichen der Weltschlange Jörmungandr, deren Haupt immer wieder nachwächst, nachdem es abgeschlagen wurde. Probleme sind Schöpfungen unseres Verstandes, der sich von ihnen ernährt. Wahre Lehrer erkennt man nicht an Macht und Reichtum, sondern an ihrem Seelenzustand: Ruhe, Frieden, Weisheit und Gelassenheit. Unreife Menschen erkennt man an ihrer angeborenen Unruhe. Sie haben Schwierigkeiten, Frieden zu bewahren, wenn sie mit Konflikten konfrontiert werden. Bei Streitigkeiten klammert sich ihr Verstand an das Ego, was zu endlosen Reaktionen und Konflikten führt. Ein rechthaberischer Mensch will Andere mit aller Macht überzeugen – wie Diktaturen mit Zwangsgesetzen.
In einem inneren Refugium (Mitgard) entwickelt sich ein weiser Geist, der sich weder mit seinem Ichbewusstsein noch mit seinem Verstand identifiziert. So wird es unmöglich, sich mit dem Bruder einer anderen Meinung zu streiten. Pascal sagte hierzu, dass der Mensch, der die Einsamkeit meidet, die Stille seines eigenen Geistes nicht ertragen kann, da er nur im Kollektiv lebensfähig ist. Er glaubte, dass gelegentliche Einsamkeit (Mitgard) eine transformative Kraft hat und keineswegs eine dauerhafte Isolation bedeuten muss. „Einsamkeit ist keine Flucht vor der Realität, sondern eine Rückkehr zu sich selbst.“
Wir sollten unsere Gedanken beobachten wie Wolken, die am Himmel entlangziehen – flüchtige Inhalte unserer Erfahrung, die von unserem Stirn-Computer stammen und wieder zurückgeführt werden wollen. Unser Bewusstsein beobachtet diese Gedanken und erkennt ihre Vergänglichkeit. Die Annahme der Einfachheit des gegenwärtigen Moments führte Prinz Siddharta Gotama 586 v. Chr. in der Frühlingsvollmondnacht zur völligen Erleuchtung und zur Buddhaschaft.