Kirchen-Sekten-Religionen Teil 9
Ein Blick auf Ursprung, Leben und Glaubenspraxis
Unter der Rubrik „Kirchen, Sekten, Religionen“ im März, Juni und Juli konnten wir unser religionsgeschichtliches Wissen weiterbilden.
Vergessen haben wir jedoch noch die vielen spirituellen Erwachungsgemeinden des 18. Jahrhunderts (Anthropologen u. s. w.), weshalb wir mit unseren Ergänzungen fortfahren möchten.
In eben diesem magischen 18. Jahrhundert der Magnetiseure und Totenbeschwörer stifteten einige jüdische Rabbiner im Gebiet der heutigen Ukraine kabbalistische Gemeinden, welche sich heute „Chassiden“ nennen – nach dem jiddischen Wort „shassits“ für „gerecht“.
Bekanntlich sind Rabbiner die höchsten jüdischen Glaubenslehrer, und so konnte jeder Rabbi seine eigenen Auslegungen des Talmuds oder der Tora (Bücher Moses) verbreiten.
Die ersten Chassiden-Gemeinden gingen von Rebbe Beschto aus. Er bildete seine Schüler zu weiteren Rabbis aus, die dann eigene Gemeinden im Lande gründeten, wodurch die Zahl der Gläubigen stark anwuchs. Doch auch die unterschiedlichen Auslegungen der heiligen Schriften führten zu verschiedenen Glaubensrichtungen.
Sie alle aber tragen noch heute die Kleidung des 18. Jahrhunderts und mussten als Juden an ihren Kopfbedeckungen erkennbar sein. So trugen sie nicht wie die deutschen Juden gelbe Spitzhüte, sondern reifenähnliche Pelzhüte aus Fuchsfell (da es am billigsten war).
Weil die Bibel vorschreibt, sich nicht die Schläfen zu rasieren, tragen sie alle Payots (Schläfenlocken) und als Scheitelbedeckung kleine Kippas-Mützchen, über denen dann die altmodischen schwarzen Hüte (Striemel) sitzen.
Kleine Bibelverse haben sie zum Gebet in schwarze Kästchen (Tefillin) mit Lederriemchen um Kopf und Hand gebunden, um ihrem Gott zu zeigen, dass sie nichts Verbotenes mit Gedanken oder Taten begehen.
Weil die Bibel den Frauen Kopfbedeckungen vorschreibt, scheren sich viele Chassidinnen den Kopf und tragen darüber eine Perücke. Nach dem Sabbat-Bad (Mikwe) müssten sie ihr Haar mühsam trocknen – eine Arbeit, die am Samstag verboten ist.
So gibt es auch zwei getrennte Waschbecken für Mann und Frau im Bad. Da in Moses Geboten kein Fleisch in Milch gekocht werden darf, haben sie auch in der Küche getrennte Bereiche: eine Ecke für Fleisch und eine für Milchprodukte. Ein Cheeseburger ist daher tabu.
Der Verzehr von schuppenlosen Wassertieren (z. B. Aal) oder Schwein, Hase, Kamel ist ihnen ebenfalls biblisch im Kashrut, der Koscher-Anweisung, untersagt.
Alle Streitigkeiten und öffentliche Angelegenheiten regulieren in den Gemeinden die Rebbes. Heiratsvermittler arrangieren die Hochzeiten der Chassiden, da Kinder nach Geschlechtern getrennt aufwachsen.
Heute leben die meisten Chassiden in Israel und den USA, jedoch völlig isoliert ohne moderne Technik. Um Inzucht zu vermeiden, bedienen sich die Heiratsvermittler von Dorje Shorim jedoch moderner DNA-Analysen.
Bis zum 30. Lebensjahr studieren die Chassiden Talmud und Tora (Bücher Moses). Viele arbeiten auch später nicht, werden in den USA von Gemeindespenden unterstützt oder in Israel vom Staat finanziert. Chassidinnen hingegen gehen oft regulär arbeiten.
Alle Chassiden verweigern den Militärdienst. Wer in Israel in die gesonderten Chassiden-Einheiten geht, gilt in der Gemeinde als „Schulversager“. In Israel leben inzwischen ca. 30 % der Bevölkerung nicht von eigener Arbeit, sondern von Sonderunterstützungen.
Viele Chassiden lehnen den israelischen Staat und sogar den israelischen Pass ab, weil sie glauben, dass nur der prophezeite Messias das Heilige Land mit seinen Gesetzen errichten darf – nicht profane Politiker. Deshalb helfen sie sogar notleidenden Palästinensern und demonstrieren in den USA mit Anti-Zionismus-Plakaten.
Auch in England leben orthodoxe Juden, die äußerlich nicht von den Chassiden zu unterscheiden sind. Deren Organisation „Naturei Karta“ gilt als radikalste Anti-Israel-Front. Sie strebt den Zerfall des modernen, atomaren Militärstaates Israel an.
Da sie ebenso semitischer Herkunft sind wie Israelis und Palästinenser, können sie nicht als Antisemiten oder Rassisten bekämpft werden.
Viele Israelis lehnen die Chassiden ab, weil sie keine Steuern zahlen, dennoch Finanzhilfen erhalten und Kontakte zu arabischen Führern pflegen.
Wir sehen die Chassiden als eine jüdische Sekte, weil sie ihre Mitglieder sektenhaft abschotten und Abtrünnige aus Familien- und Freundeskreisen verbannen. Fliehende Ehefrauen verlieren oft ihre Kinder, weil Gerichte eine „Traumatisierung“ der Kinder durch die reale Umwelt verhindern wollen – was viele Frauen an einer Flucht hindert.
Alljährlich zur jüdischen Neujahrsfeier Rosh ha Shana (September/Oktober) pilgern viele Braslawer Chassiden aus aller Welt nach Uman (Ukraine), zum Grab ihres Gründers Sadik Nachmann. Dort überfluten sie die Gassen des kleinen Städtchens, dessen Einwohner doppelt so zahlreich sind, aber keine ausreichenden Unterkünfte anbieten können.
Hier wie auch in Israel zeigt sich gegenüber dieser Minderheit eine bemerkenswerte Toleranz.
Leser frage:
Was denkst du über die strengen Traditionen der Chassiden – sind sie bewahrenswerte Spiritualität oder überholte Gesellschaftsstrukturen?
📚 Glossar – Fachbegriffe im Artikel
🕍 Chassiden
Ultraorthodoxe jüdische Gemeinschaften, die im 18. Jahrhundert in Osteuropa entstanden. Sie leben streng nach der Tora und den Lehren ihrer Rabbiner, den „Rebbes“.
👨🏫 Rebbe
Ein geistlicher Führer in der chassidischen Bewegung, vergleichbar mit einem Meister oder Lehrer. Er interpretiert religiöse Schriften und leitet seine Gemeinde.
📜 Tora
Die fünf Bücher Mose, zentraler Bestandteil der hebräischen Bibel, verbindliches Gesetz und Lehre für gläubige Juden.
📚 Talmud
Sammlung religiöser Diskussionen, Interpretationen und Gesetzestexte, die das jüdische Leben detailliert regeln.
🔗 Payots
Seitenlocken, die männliche Chassiden tragen, beruhend auf einem biblischen Gebot (3. Mose 19,27).
🧢 Kippa
Kleine runde Kopfbedeckung, die jüdische Männer aus Respekt vor Gott tragen.
🎩 Striemel
Traditioneller, pelzbesetzter Hut, der vor allem an Feiertagen von verheirateten chassidischen Männern getragen wird.
📦 Tefillin
Schwarze Lederkapseln mit Pergamentstreifen, die Verse aus der Tora enthalten. Beim Morgengebet werden sie an Kopf und Arm gebunden.
🛁 Mikwe
Rituelles Bad zur Reinigung, oft von Frauen vor dem Sabbat oder nach bestimmten Reinheitsgesetzen genutzt.
🥩 Kashrut
Die jüdischen Speisegesetze. Nur „koschere“ Lebensmittel sind erlaubt; Schweinefleisch, Meeresfrüchte oder das Mischen von Fleisch und Milch sind verboten.
🧬 Dorje Shorim
Organisation innerhalb der chassidischen Gemeinschaft, die DNA-Analysen nutzt, um genetische Risiken in Eheschließungen zu vermeiden.
🎉 Rosh ha Shana
Das jüdische Neujahrsfest, eine Zeit der Einkehr, des Gebets und des Neubeginns im Herbst.
✡ Naturei Karta
Anti-zionistische orthodox-jüdische Gruppierung, die den Staat Israel ablehnt, da ihrer Ansicht nach nur der Messias das Heilige Land rechtmäßig errichten darf.
Weiterführende Literaturtipps
Scholem, Gershom: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Suhrkamp, 2010.
Mintz, Jerome R.: Hasidic People: A Place in the New World. Harvard University Press, 1992.
Biale, David: Hasidism: A New History. Princeton University Press, 2017.
Eliade, Mircea: Geschichte der religiösen Ideen. Band III. Herder, 1991.
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