Eine Einführung
Ursprung des Begriffs „Tugend“
Das heutige Wort für Tugend stammt vom deutschen Wort „taugen“, was so viel wie „nützlich“ bedeutet. Während gewöhnliche Weisheitsschulen Tugend lediglich als Mittel zum Erreichen gewünschter Ziele verstehen, sah die Philosophenschule des Sokratisten Antisthenes (ca. 440 v. Chr.) Tugend als völlige Bedürfnislosigkeit an. Antisthenes‘ Anhänger wurden von den wohlhabenden Bürgern als „arme Hunde“ verspottet, was sich im griechischen Begriff „Kyniker“ (heute: Zyniker) widerspiegelt.
Diogenes und die Kyniker
Diogenes von Sinope, ein prominenter Vertreter der Kyniker, lebte in äußerster Bescheidenheit. Er wohnte in einem großen, ausgedienten Weinfass und verzichtete auf jeglichen Luxus. Diogenes‘ Bedürfnislosigkeit beeindruckte selbst König Alexander den Großen. Als König Alexander (336 – 323 vor Christi) den berühmten Kyniker Diogenes nach dessen Wunsch fragte, antwortete dieser nur mit den Satz : „ ich wünsche, dass du mir aus der Sonne gingest !“ Tief beeindruckt von dieser Bedürfnislosigkeit antwortete der König: „Ich wollte, ich wäre Diogenes, wenn ich nicht Alexander wäre!“
Diogenes zeigte seine Philosophie durch zahlreiche Anekdoten: Als er ein Kind mit zusammengelegten Händen Wasser trinken sah, warf er seinen Trinkbecher weg und ahmte das Kind nach. Als Diogenes von Sinope auf einen Bürger traf, der einen Hund schlug, sprang er dazwischen mit den zürnenden Worten : „Höre auf, meinen verstorbenen Schüler zu schlagen!“ Er erklärte dem verdutzten Bürger, dass die Menschen wiedergeboren werden und er seinen Schüler an dessen jaulende Stimme erkannt hätte. Einmal warf ein übergesättigter Bürger dem Diogenes einen Knochen vor den Füssen mit den Worten: „Du lebst wie ein Hund, also fresse wie ein Hund!“ Daraufhin hob Diogenes seelenruhig sein Bein in die Höhe und pinkelte dem hochnäsigen Spötter wie ein Hund an und sprach mit stoischer Gelassenheit : „Wenn du mich wie ein Hund behandelst, kann ich mich auch so wie ein Hund benehmen !“
Zenon und die Stoa
Zenon von Kition (336–264 v. Chr.), der Begründer der Stoischen Philosophie, lehrte in der Stoa Poikile in Athen, dass Selbstüberwindung und sittlicher Stolz gegenüber jedem Schicksal zur Glückseligkeit führen. Die Stoiker glaubten, dass Tugend das einzige wahre Gut sei und dass äußere Umstände die innere Ruhe eines Weisen nicht beeinträchtigen können.
Epiktet und seine Lehren
Epiktet (ca. 50–135 n. Chr.) vermittelte praktische Anweisungen zur glücklichen Lebensweise. Er nutzte das Herkules-Gleichnis, um seinen Schülern zu verdeutlichen, dass Hindernisse göttlich vorbestimmt sind und zur Selbstverwirklichung beitragen.
„Hätte Herakles (Herkules) seine Lebensprüfungen nicht aufgenommen, würde die Welt von seinen Heldentaten nicht berichten können !“ (Karma).
Epiktet glaubte, dass wahres Glück aus der Unerschütterlichkeit der Seele kommt.
Einige von Epiktets bedeutenden Lehren umfassen:
- „Wenn du einem Kinde oder deiner Frau einen Kuss gibst, erinnere dich: Ich küsse einen Sterblichen!“
- „Wenn ein Mensch etwas Falsches behauptet, zürne ihm nicht! Keine Seele wird mit ihrer eigenen Zustimmung der Wahrheit beraubt, sondern das Falsche erschien ihm wahr.“
- „Du bist ein Schauspieler in einem vom Schicksal festgelegten Stück. Deine Aufgabe ist lediglich, deine Rolle gut zu spielen!“
Vergleich mit dem Buddhismus
Die stoische Haltung ähnelt in vielerlei Hinsicht den Lehren des Buddhismus. Beide Philosophien betonen die Bedeutung von Selbstbeherrschung und innerer Ruhe. Im buddhistischen Verständnis bedeutet „gut“ weder sich noch andere zu schädigen. Beide Philosophien lehren, dass äußere Umstände unsere innere Zufriedenheit nicht beeinträchtigen sollten.
Schlussfolgerung
Die Philosophie der Stoa bietet wertvolle Einsichten für ein erfülltes und tugendhaftes Leben. Sie lehrt uns, dass wahres Glück aus der Selbstbeherrschung und inneren Ruhe kommt. Durch die Anwendung stoischer Prinzipien können wir lernen, die Herausforderungen des Lebens mit Gelassenheit und Weisheit zu meistern.